Pflegegrad trotz Führerschein – ein Widerspruch?
Im Alltag vieler Pflegebedürftiger in Deutschland gibt es ein Thema, das kaum jemand laut ausspricht – aber das bei Pflegebegutachtungen immer wieder mitschwingt: Kann jemand wirklich pflegebedürftig sein, wenn er oder sie noch Auto fährt? Oder anders gefragt: Wird der Führerschein zum stillen K.-o.-Kriterium für einen angemessenen Pflegegrad?
🚨 Die Praxis: Pflegegrad 1 trotz objektiver Einschränkungen
In der Beratung bei FAMILIARA stoßen wir regelmäßig auf einen auffälligen Zusammenhang: Menschen, die nach objektiver Einschätzung Anspruch auf Pflegegrad 2 hätten, bekommen nur Pflegegrad 1 zugesprochen. Der gemeinsame Nenner? Viele dieser Menschen fahren noch Auto – und genau das scheint bei der Begutachtung stärker ins Gewicht zu fallen als ihr tatsächlicher Unterstützungsbedarf.
Doch ist das rechtens? Ist das gerecht?
❓Auto fahren = gesund?
Die Antwort darauf ist klar: Nein. Autofahren ist kein Ausschlusskriterium für Pflegebedürftigkeit. Und schon gar nicht darf es ein Ersatzindikator für Selbstständigkeit sein. Die Pflegebegutachtung in Deutschland folgt dem „Neuen Begutachtungsassessment (NBA)“ gemäß SGB XI. Es bewertet die Pflegebedürftigkeit in sechs klar definierten Modulen – etwa Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Selbstversorgung, Gestaltung des Alltags. Autofahren gehört explizit nicht dazu.
Dennoch erleben wir in der Praxis: Der Autoschlüssel wiegt manchmal mehr als der Pflegebedarf.
⚖️ Was sagt die Rechtsprechung?
Die Gerichte stellen sich klar gegen diese verkürzte Logik:
- Das Sozialgericht Detmold (Az. S 6 P 211/18) hat entschieden: Allein die Tatsache, dass eine Person noch Auto fährt, ist kein Beleg dafür, dass sie nicht pflegebedürftig sei.
- Auch das Landessozialgericht Bayern (Az. L 4 P 88/18) urteilt: Fahrtüchtigkeit schließt einen Pflegegrad nicht aus – die individuelle Hilfebedürftigkeit bleibt entscheidend.
Diese Urteile sind deutlich. Und sie zeigen: Es braucht eine differenzierte Betrachtung, die Lebensrealität und Selbstbestimmung anerkennt – statt sie pauschal zu bestrafen.
🚗 Mobilität ist kein Luxus – sondern oft lebensnotwendig
Gerade auf dem Land sind Menschen oft auf das Auto angewiesen – selbst wenn sie körperlich eingeschränkt sind. Moderne Technik macht es möglich: automatische Kupplungen, Gas-Brems-Schieber, individuell angepasste Fahrzeuge. Wer mit solchen Hilfen noch Auto fahren kann, ist oft nicht „topfit“, sondern organisiert seinen Alltag mit viel Kraft und Mühe.
Besonders häufig betrifft das ältere Menschen, die kognitiv sehr fit sind, aber körperlich unter Erkrankungen wie Arthrose, Parkinson oder Herzinsuffizienz leiden. Autofahren gibt ihnen ein Stück Autonomie zurück – und hilft, soziale Isolation zu vermeiden. Wer das als Zeichen von „Gesundheit“ fehlinterpretiert, verkennt das Wesen von Pflegebedürftigkeit.
👥 Pflegebedürftig heißt nicht hilflos
Hier liegt der Kern des Problems: Viele Menschen – und leider auch manche Gutachter – setzen Pflegebedürftigkeit mit völliger Hilflosigkeit gleich. Doch die Realität ist vielschichtiger. Pflegebedürftigkeit bedeutet, dass jemand regelmäßig und dauerhaft auf Hilfe angewiesen ist, um seinen Alltag zu bewältigen. Nicht, dass er oder sie alles nicht mehr kann.
Wer also trotz Einschränkungen selbstständig bleiben will und etwa noch Auto fährt, verdient Respekt – nicht Misstrauen.
🧭 Was muss sich ändern?
- Sensibilisierung der Gutachter:innen: Pflegebegutachtung muss fair, objektiv und lebensnah erfolgen. Der Blick aufs große Ganze ist entscheidend – nicht auf das Lenkrad.
- Klarere Leitlinien: Es braucht verbindliche Hinweise für Begutachtende, dass Mobilität mit technischen Hilfen oder unter bestimmten Bedingungen nicht gegen einen höheren Pflegegrad spricht.
- Mut zur Differenzierung: Statt Pflegegrad 1 als „Trostpflaster“ zu vergeben, braucht es den Mut, echte Bedarfe auch dann anzuerkennen, wenn das Bild nicht ins Klischee passt.
📝 Fazit: Der Mensch ist mehr als sein Führerschein
Autofahren darf nicht zum heimlichen Ausschlusskriterium für Pflegeleistungen werden. Die individuelle Lebenssituation zählt. Menschen, die sich mit viel Anstrengung ihre Mobilität erhalten, sind nicht weniger pflegebedürftig – sondern vielleicht sogar besonders engagiert, sich ein Stück Lebensqualität zu bewahren.
Pflegegrad heißt nicht Stillstand – sondern Unterstützung, damit Leben gelingen kann.
💬 Hast du selbst Erfahrungen gemacht, bei denen Mobilität oder Führerschein zur Hürde bei der Pflegebegutachtung wurden? Teile deine Geschichte mit uns – wir hören zu.
Mit herzlichen Grüßen,
Dein FAMILIARA-Team