Pflegebedürftigkeit bei Kindern: Ursachen und ihre Bedeutung für den Pflegegrad

Pfle­ge­be­dürf­ti­ge Kin­der ver­die­nen einen gerech­ten Pfle­ge­grad. Die kor­rek­te Beur­tei­lung ist aus drei Grün­den schwierig:

  • Kin­der mit Pfle­ge­be­darf sind zah­len­mä­ßig deut­lich sel­te­ner als pfle­ge­be­dürf­ti­ge Erwach­se­ne. Sie haben oft pfle­ge­be­grün­den­de Dia­gno­sen, die bei Erwach­se­nen nicht oder nur sel­ten vor­kom­men. Nach­voll­zieh­bar, dass vie­le Gut­ach­ter mit der Pfle­ge­be­dürf­tig­keit von Kin­dern wenig Erfah­rung haben
  • Kin­der gel­ten erst ab ihrem elf­ten Lebens­jahr als völ­lig selbst­stän­dig im Sin­ne der Pfle­ge­ver­si­che­rung. Die Abgren­zung von einer krank­heits­be­ding­ten Unselb­stän­dig­keit  – und damit von einer pfle­ge­ri­schen Rele­vanz – ist dem­nach schwer
  • Kin­der ler­nen häu­fig im Lau­fe der Zeit, mit ihrem Han­di­cap umzu­ge­hen. Das kann die Pfle­ge­be­dürf­tig­keit redu­zie­ren und damit die Fest­le­gung auf einen min­des­tens sechs Mona­te gel­ten­den Pfle­ge­grad erschweren

Wel­che medi­zi­ni­schen Ursa­chen eine Pfle­ge­be­dürf­tig­keit bei Kin­dern zur Fol­ge haben kann und wel­che krank­heits­spe­zi­fi­schen Aspek­te bei der Bemes­sung des gerech­ten Pfle­ge­gra­des wich­tig sind, hat Dr. med. Jörg Zim­mer­mann für Sie zusammengestellt.

Die Grün­de für eine Pfle­ge­be­dürf­tig­keit von Kin­dern sind viel­fäl­tig und kön­nen sowohl ange­bo­ren als auch erwor­ben sein. Oft resul­tie­ren kör­per­li­che oder psy­chi­sche Defi­zi­te, die allei­ne oder in Kom­bi­na­ti­on vor­han­den sind und bei der Begut­ach­tung kor­rekt erfasst wer­den müs­sen. Dies erfolgt in sechs Lebens­be­rei­chen (Modu­len):

  • Modul 1 Mobi­li­tät: Hier geht es um die Fra­ge, ob das Kind per­so­nel­le Unter­stüt­zung benö­tigt, um eine Kör­per­hal­tung ein­zu­neh­men oder zu wech­seln oder sich fortzubewegen
  • Modul 2 Kogni­ti­on: Kann das Kind, in Abhän­gig­keit von sei­ner Alters­ent­wick­lung, ver­ste­hen, kom­mu­ni­zie­ren und erken­nen oder braucht es auf­grund von ent­spre­chen­den Defi­zi­ten Hil­fe oder Anleitung?
  • Modul 3 Psy­che: In die­sem Modul geht es um Ver­hal­tens­wei­sen und psy­chi­sche Pro­blem­la­gen als Fol­ge von Gesund­heits­pro­ble­men, die immer wie­der auf­tre­ten und per­so­nel­le Unter­stüt­zung erfor­der­lich machen
  • Modul 4 Selbst­ver­sor­gung: Ele­men­ta­re täg­li­che Hand­lun­gen wie An- und Aus­zie­hen, Kör­per­hy­gie­ne, Toi­let­ten­gang sowie Essen und Trin­ken kön­nen durch die Grund­er­kran­kung des Kin­des (alters­ab­hän­gig) mög­li­cher­wei­se nicht selbst­stän­dig durch­führ­bar sein
  • Modul 5 Krank­heit: Hier muss der erhöh­te zeit­li­che Betreu­ungs­auf­wand erfasst wer­den, der sich als unmit­tel­ba­re Fol­ge der Erkran­kung ergibt (Durch­füh­rung von Injek­tio­nen oder Mes­sung von medi­zi­ni­schen Wer­ten, Beglei­tung bei The­ra­pie­maß­nah­men oder Arztbesuchen)
  • Modul 6 All­tag: In die­sem Modul wird gefragt, ob das Kind bei der Gestal­tung des All­tags­le­bens (Ruhen und Schla­fen, Beschäf­ti­gung, Akti­vi­tä­ten) und bei sozia­len Kon­tak­ten (Inter­ak­ti­on mit ande­ren Men­schen, Kon­takt­pfle­ge im Freun­des­kreis) Unter­stüt­zung braucht

Hier sind eini­ge der häu­figs­ten Ursa­chen für eine Pfle­ge­be­dürf­tig­keit bei Kin­dern sowie ihre beson­de­ren Aspek­te für die kor­rek­te Ein­stu­fung in einen Pflegegrad:

1. Angeborene Erkrankungen und genetische Störungen:

  • Chro­mo­so­men­an­oma­lien wie das Down-Syn­drom (Tri­so­mie 21) kön­nen sehr unter­schied­li­che Fol­gen für die Pfle­ge­be­dürf­tig­keit haben. Je nach Aus­prä­gung der geis­ti­gen Defi­zi­te brau­chen Kin­der in vie­len täg­li­chen Situa­tio­nen Hil­fe oder Anlei­tung. Wich­tig sind hier die Modu­le 2 (Kogni­ti­on), 4 (Selbst­ver­sor­gung) und 6 (All­tag)
  • Stoff­wech­sel­er­kran­kun­gen wie Muko­vis­zi­do­se sind geprägt von hoher Salz­kon­zen­tra­ti­on im Schweiß (Elek­tro­lyt- und Flüs­sig­keits­ver­lust), Atem­wegs­pro­ble­men (Hus­ten, Atem­not, häu­fi­ge Infek­te) und Ver­dau­ungs­stö­run­gen. Da Kin­der, abhän­gig vom Alter, mit den Fol­gen oft nicht umge­hen kön­nen, muss der erhöh­te Betreu­ungs­be­darf ins­be­son­de­re im Modul 5 (Krank­heit) geprüft wer­den. Die star­ke psy­chi­sche Belas­tung des Kin­des kann in den Modu­len 3 (Psy­che) und 6 (All­tag) zu einer rele­van­ten Pfle­ge­be­dürf­tig­keit führen
  • Ange­bo­re­ne Fehl­bil­dun­gen wie Herz­feh­ler oder Spi­na bifi­da sind in ihren Aus­prä­gun­gen oft sehr unter­schied­lich und kom­plex. Bestimm­te rele­van­te Modu­le für die Ein­stu­fung in einen Pfle­ge­grad kön­nen des­we­gen nicht benannt werden 

2. Neurologische und muskuläre Erkrankungen:

  • Hirn­schä­den wie die Zere­bral­pa­re­se, ent­stan­den wäh­rend der Schwan­ger­schaft, Geburt oder frü­hen Kind­heit, haben fast regel­mä­ßig eine mitt­le­re bis schwe­re Pfle­ge­be­dürf­tig­keit zur Fol­ge. Ent­schei­dend ist die Fra­ge, ob kör­per­li­che (Modu­le 1 und 4) oder psy­chi­sche Defi­zi­te (Modu­le 2, 3 und 6) im Vor­der­grund ste­hen. Im Modul 5 (Krank­heit) ist prak­tisch immer ein hoher Pfle­ge­be­darf vorhanden
  • Erb­lich beding­te Mus­kel­krank­hei­ten, die zu Mus­kel­schwä­che und ‑abbau füh­ren (Duchen­ne Mus­kel­dys­tro­phie DMD), haben in der Regel Aus­wir­kun­gen, die in den Modu­len 1 (Mobi­li­tät) und 4 (Selbst­ver­sor­gung) zu prü­fen sind. Mit fort­schrei­ten­der Erkran­kung und Über­grei­fen auf die Herz- und Atem­mus­ku­la­tur gewinnt das Modul 5 (Krank­heit) an pfle­ge­ri­scher Bedeutung
  • Epi­lep­sie mit Krampf­an­fäl­len ist eine Erkran­kung, deren pfle­ge­ri­sche Rele­vanz bei Kin­dern nicht ein­fach zu beur­tei­len ist. Oft kann mit einer medi­ka­men­tö­sen The­ra­pie eine Pfle­ge­be­dürf­tig­keit ver­mie­den wer­den. Lei­der gibt es auch schwe­re Aus­prä­gun­gen, die zu Ent­wick­lungs­stö­run­gen füh­ren kön­nen und dann ins­be­son­de­re in den Modu­len 2 (Kogni­ti­on) und 3 (Psy­che) einen Pfle­ge­grad rechtfertigen 

3. Verletzungen und Unfälle:

  • Schwe­re Ver­let­zun­gen des Kop­fes, der Extre­mi­tä­ten oder der Wir­bel­säu­le, die zu dau­er­haf­ten Behin­de­run­gen füh­ren, kön­nen ins­be­son­de­re das Modul 1 (Mobi­li­tät) und das Modul 4 (Selbst­ver­sor­gung) betref­fen. Sind zen­tra­le Gehirn­funk­tio­nen geschä­digt wor­den, spie­len die psy­chi­schen Modu­le 2 und 3 oft eine Rolle
  • Dritt­gra­di­ge Ver­bren­nun­gen von gro­ßen Tei­len der Kör­per­ober­flä­che haben ins­be­son­de­re dann eine Pfle­ge­be­dürf­tig­keit zur Fol­ge, wenn eine über­schie­ßen­de Nar­ben­bil­dung im Bereich von Gelen­ken die Mobi­li­tät und die Selbst­ver­sor­gung (Modu­le 1 und 4) stark beein­träch­ti­gen. Dar­über hin­aus müs­sen die psy­chi­schen Fol­gen von ent­stel­len­den Ver­bren­nungs­nar­ben hin­sicht­lich ihrer pfle­ge­ri­schen Rele­vanz über­prüft wer­den (Modu­le 3 und 6)

4. Infektiöse und entzündliche Erkrankungen:

  • Menin­gi­tis (Hirn­haut­ent­zün­dung) kann als Lang­zeit­fol­ge moto­ri­sche und sen­si­ble Aus­fäl­le sowie eine aus­ge­präg­te retro­gra­de Amne­sie mit Ver­lust erlern­ter Fähig­kei­ten zur Fol­ge haben. Je nach Aus­prä­gung kön­nen prin­zi­pi­ell alle Modu­le der Begut­ach­tung rele­vant sein 
  • Enze­pha­li­tis (Ent­zün­dung des Gehirns) wird oft durch Viren ver­ur­sacht und ist ins­be­son­de­re für Kin­der sehr gefähr­lich. Nach lebens­be­droh­li­chen Ver­läu­fen sind oft schwer­wie­gen­de neu­ro­lo­gi­sche Fol­gen vor­han­den, wobei hin­sicht­lich der Pfle­ge­be­dürf­tig­keit die psy­chi­schen (Modu­le 2, 3 und 6) oder die kör­per­li­chen Sym­pto­me (Modu­le 1 und 4) im Vor­der­grund ste­hen können

5. Onkologische Erkrankungen:

  • Krebs­er­kran­kun­gen wie Leuk­ämien (Blut­krebs), Tumo­ren des zen­tra­len Ner­ven­sys­tems (Hirn­tu­mo­re), Lym­phome oder Kno­chen­krebs kön­nen, je nach Schwe­re und Ver­lauf, einen sehr unter­schied­li­chen Hil­fe­be­darf nach sich zie­hen. Ent­spre­chend der Art der vor­han­de­nen Defi­zi­te müs­sen alle Modu­le in Betracht gezo­gen werden 

6. Auto­im­mun­erkran­kun­gen und chro­ni­sche Krankheiten:

  • Juve­ni­le idio­pa­thi­sche Arthri­tis ist eine Auto­im­mun­erkran­kung, die Gelen­ke betrifft und lang­fris­ti­ge Pfle­ge erfor­dern kann. Das betrifft ins­be­son­de­re die Modu­le 1 (Mobi­li­tät) und 4 (selbst­ver­sor­gung), kann aber auch viel Unter­stüt­zungs­be­darf im psy­chi­schen und sozia­len Bereich (Modu­le 3 und 6) not­wen­dig machen
  • Dia­be­tes Typ 1 erfor­dert gera­de bei klei­nen Kin­dern eine kon­ti­nu­ier­li­che Über­wa­chung und Pfle­ge (Modul 5 Krank­heit). Häu­fig hat das Krank­heits­bild aber auch Aus­wir­kun­gen in den Modu­len 3 (Psy­che) und 6 (All­tag)

7. Psy­chi­sche und Entwicklungsstörungen:

  • Autis­mus-Spek­trum-Stö­run­gen (z. B. Asper­ger), die von anhal­ten­den Defi­zi­ten in der sozia­len Kom­mu­ni­ka­ti­on und Inter­ak­ti­on sowie von begrenz­ten, wie­der­ho­len­den Ver­hal­tens­mus­tern geprägt sind. Hier sind in der Regel die Modu­le 2 (Kogni­ti­on), 3 (Psy­che), 4 (Selbst­ver­sor­gung) und 6 (All­tag) genau zu prüfen
  • Schwe­re For­men von ADHS sind gekenn­zeich­net durch Hyper­ak­ti­vi­tät (über­stei­ger­ter Bewe­gungs­drang), Unauf­merk­sam­keit (gestör­te Kon­zen­tra­ti­ons­fä­hig­keit) und Impul­si­vi­tät (unüber­leg­tes Han­deln). Das kann bei Kin­dern Hil­fe- und Unter­stüt­zungs­be­darf ins­be­son­de­re in den Modu­len 2 (Kogni­ti­on), 3 (Psy­che), 4 (Selbst­ver­sor­gung) und 6 (All­tag) zur Fol­ge haben

Fazit:

Bei allen genann­ten Grün­den für eine Pfle­ge­be­dürf­tig­keit von Kin­dern kommt es immer auf die indi­vi­du­el­le Situa­ti­on an. Die­se Grün­de kön­nen ent­we­der ein­zeln oder in Kom­bi­na­ti­on vor­han­den sein. Die gro­ße Her­aus­for­de­rung besteht dar­in, alle pfle­ge­re­le­van­ten Aspek­te genau zu erken­nen und die ent­spre­chen­de Punkt­zahl in den Modu­len rich­tig ein­zu­schät­zen. Dabei ist ins­be­son­de­re das Alter des Kin­des zum Zeit­punkt der Begut­ach­tung entscheidend.

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